„Aufbruch Klimaneutralität“: dena-Leitstudie zeigt Wege in die Zukunft
Die Deutsche Energieagentur (dena) hat Anfang Oktober 2021 ihre umfangreiche neue Leitstudie „Aufbruch Klimaneutralität“ vorgestellt. Sie zeigt einen Weg für Deutschland in eine klimaneutrale Zukunft auf – unter Berücksichtigung der Sektoren Energiewirtschaft, Gebäude, Mobilität und Industrie. Dabei wird klar: Wir benötigen hierzulande deutlich mehr erneuerbare Energie. Grünen Strom genauso wie Wasserstoff und Future Fuels. Auch im Gebäudebereich wären alternative flüssige Brennstoffe ein Baustein für mehr Klimaschutz.
Erschienen: 3. November 2021 Lesezeit: 6 Minuten

Die dena-Leitstudie liefert der zukünftigen Bundesregierung eine praxisorientierte Perspektive zur Erreichung von Klimaneutralität bis 2045.
Foto: MAN Energy Solutions
Nach 17 Monaten Arbeit mit einem breiten Kreis verschiedener Akteure hat die Deutsche Energie-Agentur (dena) den Abschlussbericht ihrer neuen Leitstudie „Aufbruch Klimaneutralität“ veröffentlicht. Im Zentrum standen die Fragen, welche Technologiepfade aus heutiger Perspektive realistisch sind und welche Rahmenbedingungen benötigt werden, um bis zum Jahr 2045 zu einem integrierten klimaneutralen Energiesystem in Deutschland zu kommen. Dabei wurden konkrete Lösungsansätze und CO2-Reduktionspfade für einzelne Sektoren analysiert und identifiziert. Es zeigt sich: Deutschland benötigt deutlich mehr erneuerbare Energie – sowohl grünen Strom als auch Wasserstoff und alternative flüssige Kraft- und Brennstoffe – und wird auch über 2045 hinaus Energieimportland bleiben.
Praxisorientierte Perspektive für Klimaneutralität
„Die dena-Leitstudie liefert der zukünftigen Bundesregierung eine praxisorientierte Perspektive zur Erreichung von Klimaneutralität bis 2045. In Ergänzung zu einer umfassenden und ausdifferenzierten Analyse wurden insgesamt 84 Aufgaben in zehn zentralen Handlungsfeldern identifiziert, die eines gemeinsam haben: Jede einzelne Aufgabe ist machbar. Die erforderliche parallele Orchestrierung aller dieser Aufgaben aber ist eine gewaltige Herausforderung. Deutschland muss neuen Schwung holen in der Energie- und Klimapolitik“, erklärte Andreas Kuhlmann, Vorsitzender der Geschäftsführung der dena, anlässlich der Veröffentlichung des Abschlussberichts. „Zuviel ist liegen geblieben in den vergangenen Jahren. Dessen sollte sich die neue Bundesregierung unbedingt bewusst sein. Die gegenwärtigen gesetzlichen Regelungen stehen einem zielorientierten effizienten Handeln entgegen und verhindern so die notwendige Dynamik“, so Kuhlmann weiter.
„Zuviel ist liegen geblieben in den vergangenen Jahren. Dessen sollte sich die neue Bundesregierung unbedingt bewusst sein. Die gegenwärtigen gesetzlichen Regelungen stehen einem zielorientierten effizienten Handeln entgegen und verhindern so die notwendige Dynamik“
Auf vier Säulen zur Klimaneutralität
Die dena-Leitstudie zeigt anhand eines zentralen Szenarios (KN 100) wie die Sektorziele im Jahr 2030 und Klimaneutralität im Jahr 2045 erreicht werden können – welche Energieträger und Technologien in welchen Mengen benötigt werden sowie die dafür notwendigen transformatorischen Veränderungen. Um das für 2045 ausgegebene Ziel zu erreichen ist demnach eine Vier-Säulen-Strategie erforderlich:
- Die Erhöhung der Energieeffizienz als eine wesentliche Maßnahme in allen Verbrauchssektoren, allen voran in der Industrie und bei Gebäuden.
- Für den umfassenden direkten Einsatz von erneuerbaren Energien in vielen Anwendungsbereichen daneben eine breite und deutlich beschleunigte Elektrifizierung.
- Zudem werden erneuerbare gasförmige und flüssige Energieträger und Rohstoffe benötigt.
- Als vierte Säule werden technische und natürliche CO2-Senken identifiziert.
Energieversorgung heute größter CO2-Emittent
Die Energieversorgung ist hierzulande aktuell der größte CO2-Emittent. Reduktionen müssen hier am stärksten und am schnellsten erfolgen, so die Studie. Zentral sei dabei, dass sich die erneuerbaren Stromkapazitäten bereits bis 2030 mehr als verdoppeln müssten. „Um Klimaneutralität in der Energieversorgung zu erreichen, braucht es den beschleunigten, marktbasierten Ausbau der erneuerbaren Energien durch eine Vereinheitlichung und Vereinfachung von Genehmigungsverfahren und die Bereitstellung von mehr Flächen. Parallel müssen bis 2030 leistungsfähige Märkte und Infrastrukturen für Powerfuels entstehen“, so Kuhlmann.
Industrie bleibt größer Abnehmer für Wasserstoff
Die Industrie folgt an zweiter Stelle der höchsten Emissionen. Hier muss der Ausstoß allein bis 2030 um rund 36 Prozent sinken. Die stärksten Veränderungen werden laut dena-Studie bis 2030 auf die Branchen Stahl und Chemie zukommen. Laut Kuhlmann sind eine transparente Treibhausgasbilanz in der gesamten Wertschöpfungskette, eine konsequente Kreislaufwirtschaft, eine finanzielle Lenkungswirkung über die CO2-Bepreisung, die Schaffung neuer Leitmärkte sowie der schnelle Hochlauf von emissionsarmen Technologien und von Produktionsverfahren entscheidend, um in der Industrie Klimaneutralität zu erreichen. Wie die Studie zeigt, ist die Industrie bis 2045 und auch langfristig der größte Abnehmer von Wasserstoff zur energetischen und stofflichen Nutzung. Hierfür müssten die notwendigen Voraussetzungen zur Umstellung der Prozesstechnologien sowie zum Aufbau der Infrastrukturen getroffen werden.
Verkehr: 14 Millionen E-Fahrzeuge bis 2030
Der Verkehr steht, wie die dena-Leitstudie darlegt, aktuell an dritter Stelle der Emissionen und hat die größte Reduktionaufgabe aller untersuchten Verbrauchssektoren: Schon bis 2030 muss der Ausstoß um rund 48 Prozent gegenüber 1990 sinken. Die stärkste Minderung muss im Individualverkehr erfolgen, gefolgt vom Lkw-Verkehr. Dabei wird im Personenverkehr ein Hochlauf der Elektromobilität auf 9,1 Millionen vollelektrische Fahrzeuge beziehungsweise 14 Millionen Fahrzeuge inklusive Hybride bis 2030 als notwendig erachtet.

Gebäude: Einsatz klimaneutraler Brennstoffe muss steigen
Auch im Gebäudebereich müssen die CO2-Emissionen allein bis 2030 um 44 Prozent im Vergleich zum heutigen Stand reduziert werden. Der Großteil der Minderungen entfalle dabei auf Maßnahmen an der Gebäudehülle und technische Anlagen. Im Szenario KN100 werden für das Jahr 2030 bereits 4,1 Millionen Gebäude mit Wärmepumpen versorgt, im Jahr 2045 sieht die Studie neun Millionen Wärmepumpen. Auch der Einsatz von klimaneutralen gasförmigen und flüssigen Energieträgern müsse schon bis 2030 auf 32 Terawattstunden (TWh) steigen, was einem Anteil von etwa 10 Prozent am Endenergieverbrauch dieser Brennstoffe entspricht. Bis 2045 erfolgt eine weitere Vervierfachung auf 120 TWh – dann zu 100 Prozent erneuerbarer Gase und Flüssigbrennstoffe.
Substanzieller Bedarf an erneuerbaren flüssigen Energieträgern
Ein weiteres wichtiges Ergebnis der dena-Leitstudie: Der Bedarf an flüssigen Energieträgern wird bis 2045 in den großen Verbrauchssektoren zwar deutlich zurückgehen, jedoch wird auch langfristig ein substanzieller Bedarf an erneuerbaren flüssigen Energieträgern bestehen bleiben. So geht das Basisszenario KN 100 im Gebäudesektor für 2045 von rund 1,2 Millionen Ölheizungen aus, in anderen Pfadausprägungen sind es rund zwei Millionen. Für die Luftfahrt wird bis 2045 ein großer Bedarf an erneuerbarem Kerosin gesehen. In den „molekülbasierten Pfadausprägungen“ hat auch 2045 knapp die Hälfte des Fahrzeugbestands einen Verbrennungsmotor (inklusive Hybridfahrzeugen), in den „elektronenbasierten Pfadausprägungen“ gibt es hingegen fast nur noch batteriebetriebene Pkw. Eine weitere wesentliche Erkenntnis der Studie ist, dass Deutschland weiterhin große Mengen Energie in Form flüssiger und gasförmiger erneuerbarer Energieträger importieren wird. Insbesondere flüssige Energieträger und Vorprodukte wie zum Beispiel Methanol werden dabei vornehmlich aus Ländern mit sehr guten Bedingungen für die Gewinnung erneuerbarer Energie importiert werden.
Zielführendes Energiemarktdesign und Innovationen gefordert
In Anbetracht der großen Herausforderungen, die sich durch das Ziel der Klimaneutralität ergeben, sei die Verknüpfung von Maßnahmen notwendig, so Kuhlmann. Es reiche nicht aus, Transformationspfade in einem Handlungsfeld oder einem Sektor zu beschreiten. Die dena-Leitstudie macht diesbezüglich auf die Notwendigkeit eines zielführenden Energiemarktdesigns aufmerksam, das die Transformation beschleunigen und möglichst effektiv Investitionen in klimaneutrale Technologien und Infrastrukturen auslösen soll. Dabei spielen laut dena ein CO2-Preis mit mehr Lenkungswirkung, die Angleichung staatlich induzierter Preisbestandteile und der Aufbau einer integrierten Infrastrukturplanung zentrale Rollen. Große Bedeutung für die Erreichung der Klimaneutralität habe die europäische Ebene aufgrund der von ihr gesetzten übergeordneten rechtlichen Rahmenbedingungen. „Die Studie verdeutlicht, dass die Energiewende stärker europäisch und international gedacht werden muss. Deutschland sollte bei der Umsetzung des ‚Fit for 55‘-Pakets zum Vorreiter werden die nationale Energiepolitik den europäischen ‚Green Deal‘ als Leitbild nehmen“, so Kuhlmann.
Kritik von NGOs
Die Reaktionen auf den Abschlussbericht zur dena-Leitstudie „Aufbruch Klimaneutralität“ fielen gemischt aus. Kritik an der Studie gab es von im Beirat vertretenen NGOs wie dem World Wildlife Fund (WWF) unter anderem aufgrund des angeblich zu starken Fokus‘ auf Wasserstoff und PtX. „Nicht alle stimmen den Ergebnissen der dena-Leitstudie zu,“ schrieb auch Brigitte Knopf Generalsekretärin Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) auf Twitter, doch sie zeigt einen möglichen Pfad zur Klimaneutralität 2045 auf. Mindestens ebenso wichtig seien der Prozess und der Dialog im Zuge der Studie gewesen.
„Alle Register ziehen“
Positiv äußerte sich der Bundesverband der Deutschen Heizungsindustrie. „Die Studienergebnisse, als auch die Handlungsempfehlungen, stützen die BDH-Sichtweise und damit die der Deutschen Heizungsindustrie, dass alle Lösungsoptionen erforderlich sind, um die Klimaziele im Gebäudesektor zu erreichen“, so BDH-Hauptgeschäftsführer Markus Staudt. Dies gelte sowohl für die technischen Lösungen im Bereich der Heizsysteme, als auch im Bereich der Defossilisierung des Energiemixes im Wärmemarkt über Erneuerbare und CO2-freie Energieträger. „Es gilt alle Register zu ziehen“, so Staudt.
Politische Weichenstellungen eingefordert
„Auch wenn wir nicht jede einzelne Annahme im Gutachten teilen: Die neue Studie ist ein wichtiger Beitrag zur Debatte um die Ausgestaltung der Energiewende. Sie macht deutlich, dass der Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung und die Ausweitung direktelektrischer Anwendungen nicht im Gegensatz stehen zum Einsatz alternativer Fuels. Im Gegenteil: Um die Klimaziele zu erreichen, sind selbst bei den aus unserer Sicht sehr optimistischen Annahmen zur Elektrifizierung substanzielle Mengen erneuerbarer flüssiger Kraft- und Brennstoffe erforderlich – auch im Gebäude- und Verkehrssektor“, erklärte Adrian Willig, Geschäftsführer des Instituts für Wärme und Mobilität. Entscheidend sei es, jetzt endlich entsprechende Weichenstellungen vorzunehmen.
Rund 70 Projektpartner
BDH und IWO zählten zu rund 70 Projektpartnern aus der Wirtschaft, die an der Studie beteiligt waren. Diese Form der Partnerschaft wurde in den Medien zwar auch kritisiert, ermöglichte jedoch bei der Erstellung der Studie durch zehn renommierte Institute auch eine besonders breite Expertise. Begleitet wurde die Untersuchung zudem durch einen 45-köpfigen Beirat aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik.
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