Klimaschutzgesetz geändert: Deutschland soll 2045 klimaneutral sein

Die Regierungskoalition von CDU/CSU und SPD hat sich auf eine Verschärfung der Klimaschutzziele verständigt und das Klimaschutzgesetz von 2019 geändert: Statt im Jahr 2050 soll Deutschland bereits im Jahr 2045 Klimaneutralität erreichen. Der Ausstoß von Treibhausgasen soll dazu bis 2030 nicht mehr um 55 Prozent, sondern um 65 Prozent gegenüber dem Jahr 1990 sinken. Bis 2040 sollen 88 Prozent Minderung erreicht sein. Damit geht Deutschland deutlich über die jüngst beschlossenen neuen EU-Klimaziele – 55 Prozent weniger Treibhausgasemissionen bis 2030 und Klimaneutralität bis 2050 – hinaus.

 

thg-quote für kraftstoffe

Quelle:©Wirestock – stock.adobe.com

Sektoren Energieerzeugung und Industrie müssen deutlich mehr liefern

Umgerechnet in Emissionsmengen, bedeuten minus 65 Prozent weniger Treibhausgase, dass im Jahr 2030 in Deutschland noch 438 Millionen Tonnen ausgestoßen werden dürfen. Gegenüber dem 55-Prozent-Ziel müssen zusätzlich 105 Millionen Tonnen Treibhausgase vermieden werden. Der größte Teil davon (67 Mio. t) ist nach dem geänderten Klimaschutzgesetz vom Sektor Energieerzeugung zu erbringen, was Forderungen nach einem früheren Ausstieg aus der Kohleverstromung laut werden ließ. Auch die Sektoren Industrie (22 Mio. t) und Verkehr (10 Mio. t) sind stärker gefordert. Im Gebäudesektor sind 3 Millionen Tonnen zusätzlich zu vermeiden, sodass im Jahr 2030 noch insgesamt 67 Millionen Tonnen für Wärme und Klimatisierung emittiert werden dürfen. Konkrete Festlegungen, durch welche – für Gesellschaft und Wirtschaft womöglich auch schmerzhaften – Maßnahmen die neuen Zielwerte erreicht werden sollen, finden sich im Gesetz nicht. Diese herausfordernde Aufgabe wird die nächste Bundesregierung lösen müssen.

Austoß von Treibhausgasen in Deutschland

Klimaschutzgesetz geändert Grafik Entwicklung CO2-Ausstoss seit 1990

Quelle: Umweltbundesamt; Grafik: IWO

Klimaschutzgesetz von 2019 nicht verfassungskonform

Unmittelbarer Auslöser für die Festlegung der höheren Klimaschutzziele ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021, die den Bund zur Nachbesserung des Klimaschutzgesetzes von 2019 verpflichtet. Regierung und Bundestag müssen demnach bis Ende 2022 festlegen, wie die Reduzierung der Treibhausgasemissionen ab dem Jahr 2030 schneller und besser erfolgen kann, um das Ziel einer Klimaneutralität zu erreichen. Im alten Klimaschutzgesetz waren nur Zwischenziele für den Zeitraum bis 2030 fixiert.

Aus dem im Grundgesetz verankerten Staatsziel Umweltschutz ergibt sich aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts auch eine Pflicht zum Klimaschutz. Die Verfassungsrichter sehen die Gefahr, dass der jungen Generation eine „radikale Reduktionslast“ überlassen würde, die die Ausübung der Freiheitsrechte in der Zukunft einschränke. „Klimaschutzmaßnahmen, die gegenwärtig unterbleiben, um Freiheit aktuell zu verschonen, müssen in Zukunft unter möglicherweise noch ungünstigeren Bedingungen ergriffen werden und würden dann identische Freiheitsbedürfnisse und -rechte weit drastischer beschneiden.“ Die Richter fordern „Entwicklungsdruck“ für klimaneutrale Lösungen und „Planungssicherheit“ sowie rechtzeitiges Handeln, um die nach 2030 drohenden Reduktionslasten schonend bewältigen zu können.

Nationale Anpassung der Klimaschutzziele unvermeidbar

Das von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) als „epochal“ eingestufte Urteil hat im Politikbetrieb in Bund und Ländern zu einem regelrechten Überbietungswettbewerb bei der Formulierung schärferer Klimaziele geführt und nach einem rekordverdächtig kurzen Zeitraum von nur zwölf Tagen einen Kabinettsbeschluss zur Änderung des Klimaschutzgesetzes bewirkt. Der Bundestag hat den Änderungen am 24. Juni zugestimmt.

Dabei war längst klar, dass mit den von der EU beschlossenen höheren Klimazielen (minus 55 Prozent bis 2030 und Klimaneutralität bis 2050) auch die Emissionen in Deutschland schneller sinken müssen als im Klimaschutzgesetz von 2019 vorgesehen. Der Expertenrat für Klimafragen, ein unabhängiges Gremium aus fünf Klimaexperten, das als Kontrollinstanz im deutschen Klimaschutzgesetz eingebaut worden ist, hatte Mitte April prognostiziert, dass auf Deutschland ein neues Gesamtreduktionsziel bis 2030 von 62 bis 68 Prozent statt der bisherigen 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zukommen könnte, je nachdem, was die EU-Kommission zur Erreichung des neuen Klimaziels vorschlage und welche nationalen Beiträge (Stichwort: Lastenteilung) sich daraus ergeben.

Verbände sehen Risiken für die Wirtschaft

Zahlreiche Verbände haben nicht nur das hohe Tempo bis zum Kabinettsbeschluss zur Änderung des Klimaschutzgesetzes kritisiert, das zu fundierten Stellungnahmen zu wenig Zeit gelassen habe, sie verweisen vor allem darauf, dass noch ambitioniertere Klimaziele allein nicht ausreichten. Die Regierung müsse auch erklären, wie diese erreicht werden sollen, ohne dass der Wirtschaftsstandort Deutschland Schaden nimmt und die öffentlichen und privaten Haushalte zu stark belastet werden.

Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) reagierte auf die „hektische Verschärfung“ der Klimaziele mit Unverständnis. Es fehle an Konzept, Strategie und realistischer Planung, so BDI-Präsident Siegfried Russwurm. Voraussetzung für erfolgreichen Klimaschutz seien effiziente Umsetzung, angemessene Unterstützung bei Investitionen und beim Betrieb sowie effektiver Schutz gegen internationale Wettbewerbsnachteile. „Sonst drohen unabsehbare Risiken für die Zukunft des Industriestandortes Deutschland als wichtigster Quelle von Wohlstand und Beschäftigung“, so Russwurm. Die Verfügbarkeit CO2-neutraler Energie müsse „dramatisch gesteigert“ werden.

„Voraussetzung für erfolgreichen Klimaschutz sind effiziente Umsetzung, angemessene Unterstützung bei Investitionen und beim Betrieb sowie effektiver Schutz gegen internationale Wettbewerbsnachteile. Sonst drohen unabsehbare Risiken für die Zukunft des Industriestandortes Deutschland als wichtigster Quelle von Wohlstand und Beschäftigung.“

Siegfried Russwurm

Präsident, Bundesverband der deutschen Industrie (BDI)

Seriöse Kosten- und Technologiefolgenabschätzung fehlt

Inhaltlich ähnliche Stellungnahmen gaben auch die Industrieverbände VCI (Chemie), VIK (Energie/Kraftwerke), VDA (Automobil) und ZVEI (Elektro) ab. Gemeinsamer Tenor: Es fehlen ein politischer Plan zur Erreichung der Zielvorgaben und eine seriöse Kosten- und Technologiefolgenabschätzung. Zudem müssten die nationalen Regelungen und Instrumente mit der Green-Deal-Politik der EU synchronisiert werden. Ein deutscher Alleingang bei den CO2-Minderungszielen provoziere Carbon Leakage, also die Abwanderung von Industrien dorthin, wo keine oder weit geringere CO2-Kosten anfallen, und schwäche die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie.

VDA: E-Mobilität und klimaneutrale Verbrenner

Für VDA-Chefin Hildegard Müller ist es unverständlich, „dass quasi über Nacht die Ziele für den Klimaschutz verändert werden sollen“, noch bevor die EU-Kommission ihr Projekt „Fit for 55“ konkretisiert und neue Sektorziele vorgestellt habe. Es fehle an Folgenabschätzung auch im Hinblick auf das Thema Beschäftigung, so Müller. Ungeachtet dessen verfolge die Automobilindustrie das Ziel der Klimaneutralität mit Hochdruck. Die Hersteller setzten neben den hohen Investitionen in den Hochlauf der E-Mobilität auf Technologieoffenheit. Denn mit der Wasserstofftechnologie und E-Fuels können in Zukunft auch Verbrennungsmotoren klimaneutral betrieben werden. Hier sieht VDA-Präsidentin Müller große Potenziale für Innovationen und Beschäftigung.

ZVEI: Nicht nur Ziele, sondern auch Maßnahmenkatalog

Der Präsident des Spitzenverbands der Elektroindustrie ZVEI, Gunther Kegel, nimmt im Interview mit „Tagesspiegel Background“ die nächste Bundesregierung in die Pflicht: „Große Teile der Wirtschaft rufen doch seit Jahren nach einer überzeugenden, durchdachten und vor allem langfristigen Klimaschutzpolitik – auch die Elektroindustrie. Jetzt haben wir den politischen Zielkatalog, jetzt brauchen wir den technologischen und regulatorischen Maßnahmenkatalog.“ Unstrittig sei dabei der notwendige massive Ausbau der erneuerbaren Energien („300 oder 400 Prozent mehr“) sowie der Stromnetze. Genehmigungsverfahren müssten abgekürzt werden und der lokale Umweltschutz könne nicht über dem Klimaschutz stehen. Technologievorgaben hält Kegel allerdings für verfrüht: „Für mich ist das Rennen zwischen Elektromobilität und klima- neutralen Brennstoffen noch nicht entschieden.“

BDH: Neue Ziele erfordern mehr Tempo

Die verschärften Klimaziele sind aus Sicht der Heizungsindustrie nur erreichbar, wenn das Modernisierungstempo beschleunigt wird und alle technologischen Optionen genutzt werden. „Die verschärften Ziele sind äußerst ambitioniert und mit den derzeitigen Maßnahmenschwerpunkten und dem Sanierungstempo nicht zu erreichen. Wir brauchen dazu einen technologieoffenen Wettbewerb aller Effizienztechnologien, von Wärmepumpen über Wasserstoffanwendungen und Holz- energie bis hin zu Green Fuels. Außerdem bedarf es dringend einer deutlichen Erhöhung der Heizungsaustauschrate“, so Uwe Glock, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Heizungsindustrie (BDH).

MWV und IWO: Unterstützung für alle technologischen Optionen nötig

Auch aus Sicht der Mineralölwirtschaft reicht es nicht aus, noch ambitioniertere Ziele zu setzen. Die Politik müsse der Wirtschaft und den Verbrauchern auch die Möglichkeit geben, diese zu erreichen. Dazu sollten jetzt erst recht alle technologischen Optionen schnell entwickelt und in großem Maßstab ausgebaut werden, betonen der Mineralölwirtschaftsverband (MWV) und das Institut für Wärme und Mobilität (IWO). Die Politik müsse den Hochlauf von grünem Wasserstoff und alternativen flüssigen Kraft- und Brennstoffen stärker in den Fokus nehmen. Diese würden in der Chemieindustrie, für See- und Luftfahrt, aber auch für die Bestandsflotte von Fahrzeugen gebraucht.

Selbst wenn der massive Ausbau der Wind- und Solarstromproduktion gelinge, werde das bei weitem nicht ausreichen, die verschärften Klimaziele bis 2030 zu erfüllen. „Die benötigten Mengen an treibhausgasneutralem Wasserstoff für Industrie, Mobilität und Wärme müssen auch durch Importe, vor allem aus dem europäischen Ausland durch Pipelines, gedeckt werden“, sagt MWV-Hauptgeschäftsführer Christian Küchen. IWO-Geschäftsführer Adrian Willig fordert eine technologieoffenere Berücksichtigung erneuerbarer Kraft- und Brennstoffe in den Sektoren Verkehr und Gebäude. „Wir können es uns schlichtweg nicht mehr leisten, auf geeignete Optionen zu verzichten.“

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