Wie kann die Chemieindustrie klimaneutral werden?

Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 – so lautet das verbindliche Ziel der EU. Deutschland will bereits fünf Jahre früher, also 2045, klimaneutral sein. Das bedeutet, die verschiedenen Sektoren und deren Branchen müssen noch schneller die Treibhausgasemissionen reduzieren. Wie kann die Chemiebranche das leisten? Das beantwortet Dr. Christian Hartel, Vorstandsvorsitzender der Wacker Chemie AG im Interview.

Wie kann die Chemieidnustrie klimaneutral werden Interview mit Dr. Christian Hartel, Wacker Chemie AG

Foto: Wacker

Wie kann die Chemiebranche es schaffen, bis 2045 klimaneutral zu werden?

Dr. Hartel: Unsere Industrie leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, Klimaneutralität in Deutschland und Europa zu erreichen. Wir ermöglichen es mit unseren Technologien und Produkten, die CO2-Emissionen in anderen Industrien zu reduzieren, zum Beispiel in der Bauindustrie. Ebenso ist die chemische Industrie in der Lage, CO2 als Rohstoff einzusetzen – etwa zur Herstellung von Zwischenprodukten wie Methanol zum Beispiel für Silicone oder Treibstoffanwendungen. Außerdem arbeiten wir an unserer eigenen Klimaneutralität. Berechnungen des Chemieverbands VCI zeigen, dass die Branche bis zum Jahr 2050 Klimaneutralität erreichen kann. Wir benötigen dazu einen hohen Elektrifizierungsgrad und sehr große Mengen von Strom aus erneuerbaren Quellen. Konkret muss der Anteil strombasierter Prozesse in der chemischen Industrie von derzeit 10 Prozent auf 80 Prozent steigen. Nur so kann der Verbrauch von fossilen Energieträgern beendet werden.

Wie hoch wird dafür der jährliche Strombedarf sein?

Dr. Hartel: Der Strombedarf steigt auf schätzungsweise 630 Terawattstunden – nur für die chemische Industrie in Deutschland. Das ist mehr Strom, als ganz Deutschland 2020 verbraucht hat. Ohne große Mengen erneuerbaren Stroms – der zudem bezahlbar sein muss – können energieintensive Industrien wie die Chemie nicht den Hebel in Richtung Klimaneutralität umlegen. Und ohne die energieintensiven Unternehmen kann es ganz Europa nicht. Die Elektrifizierung der Industrie ist der Schlüssel zur Klimaneutralität!

Die Nationale Wasserstoffstrategie benennt neben der Stahlerzeugung auch die Chemie- industrie als vorrangigen Anwendungsbereich für Wasserstoff. Welche Bedeutung hat Wasserstoff in der Chemie heute und zukünftig?

Dr. Hartel: Wasserstoff kann als Energieträger, als Reduktionsmittel oder zur Rohstofferzeugung genutzt werden. Die Potenziale sind groß. In der chemischen Industrie wird Wasserstoff zum Beispiel als Grundstoff zur Produktion von hochreinem Polysilicium für die Solar- und Halbleiterindustrie eingesetzt. Perspektivisch besteht die Herausforderung für die Chemieindustrie darin, die heutige stoffliche Nutzung grauen Wasserstoffs mittelfristig durch grünen Wasserstoff komplett zu ersetzen. Diese Umstellung funktioniert nicht von heute auf morgen. Wir haben also viel zu tun. Wir müssen die benötigten Technologien so schnell wie möglich hochskalieren. Ein wichtiger Baustein ist dabei der massive Ausbau von erneuerbaren Energien.

Um grünen Wasserstoff im industriellen Maßstab herstellen zu können, braucht es viel grünen Strom, der in Deutschland trotz neuer Zubaubeschlüsse der Politik knapp bleiben wird. Muss Deutschland grünen Wasserstoff zusätzlich importieren, um den wachsenden Bedarf zu decken?

Dr. Hartel: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um den Bedarf an grünem Wasserstoff zu decken. Eine Möglichkeit ist es, grünen Wasserstoff oder unmittelbare Folgeprodukte wie Methanol oder Ammoniak zu importieren. Aufgrund des steigenden Bedarfs wird der Import künftig eine Rolle spielen. Wir bei Wacker planen, an unserem Standort in Burghausen grünen Wasserstoff selbst herzustellen. Das hätte den Vorteil, dass wir so Synergien nutzen könnten. Bei der Weiterverarbeitung zu Methanol wollen wir Kohlendioxid aus unseren bestehenden Produktionsprozessen einsetzen. Eine ganz wichtige Voraussetzung für die Umsetzung des Projekts ist allerdings die Unterstützung bei Investitions- und Betriebskosten über staatliche Fördermittel.

Beim Wasserstoffprojekt RHYME Bavaria ist eine 20-Megawatt-Elektrolyseanlage vorgesehen. Ist das der Startpunkt für eine künftige industrielle Wasserstoffproduktion?

Dr. Hartel: Ja. Unser Projekt könnte der erste Schritt zur Defossilisierung chemischer Prozesse und Produkte im Bayerischen Chemiedreieck sein. Langfristig ließe sich dadurch in der Region der heute bereits bestehende Wasserstoffverbund in ein bayerisches Zentrum für grünen Wasserstoff überführen. Auf diese Weise könnten nicht nur unsere Produkte wie Silicone und Silicium, sondern auch Bau- und Treibstoffe in der Region klimaneutral hergestellt werden.

Für das RHYME-Projekt haben Sie gute Aussichten, Fördermittel der EU zu erhalten. Welche Rahmenbedingungen braucht es darüber hinaus für den viel zitierten Wasserstoffhochlauf in Deutschland?

Dr. Hartel: Wir liefern die Ideen, wir gehen auch selbst in die Umsetzung, aber wir brauchen hier Unterstützung von staatlicher Seite. Die Förderung bei Investitions- und Betriebskosten ist essenziell, um heute den Einstieg in die Wasserstofftechnologie zu ermöglichen. Perspektivisch brauchen wir zudem Rahmenbedingungen, die den profitablen Betrieb einer Wasserstoffwirtschaft erlauben. Die Verfügbarkeit von günstigem grünem Strom ist der Türöffner für eine zukunftsfähige Wasserstoffwirtschaft. Die richtigen Instrumente sind deshalb ein zügiger Ausbau der erneuerbaren Energien und die Einführung eines wettbewerbsfähigen Industriestrompreises in Europa, der bei maximal 4 Cent pro Kilowattstunde liegen darf. Wir sollten uns jetzt darauf fokussieren, zügig die Rahmenbedingungen zu schaffen, um den großtechnischen Einstieg in die grüne Wasserstofftechnologie bis 2030 zu realisieren. Europa hat jetzt die Chance, hier die Technologieführerschaft zu übernehmen.

Quelle: raffiniert 2/2021

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