Droht Deutschland eine Ökostrom-Lücke?

Wie entwickelt sich der Strombedarf in Deutschland? Im Gegensatz zur Bundesregierung prognostizieren Experten und Branchenverbände für 2030 einen deutlich steigenden Strombedarf. Der Ausbau der erneuerbaren Energien wird mit dem zunehmenden Strombedarf nicht mithalten. Daher werden Energieimporte in Form von Strom sowie grünem Wasserstoff und synthetischen Energieträgern aus sonnen- und windreichen Regionen langfristig benötigt.

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Mit dem Ausstieg aus der Kernkraft und aus der Kohleverstromung fallen konventionelle Kraftwerkskapazitäten für die Stromerzeugung weg, die durch den Ausbau der erneuerbaren Energien und eine stetig effizientere Energieverwendung kompensiert werden müssen. Gleichzeitig kommen neue Stromverbraucher hinzu, da die Sektoren Verkehr, Gebäude und Industrie in mehr oder weniger großem Umfang mit Ökostrom elektrifiziert werden sollen, um die Treibhausgasemissionen – wie im Klimaschutzgesetz festgelegt – zu senken. Laut Klimaprogramm der Bundesregierung soll der Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttostromverbrauch bis 2030 auf 65 Prozent steigen. Beim Jahr-2050-Ziel soll der Anteil 80 bis 95 Prozent betragen.

Die Entwicklung des Strombedarfs auf dem Weg zum klimaneutralen Deutschland in den nächsten beiden Dekaden ist daher eine entscheidende Größe für die Energie- und Klimapolitik. Mit dem umstrittenen Kohleausstiegsgesetz der Bundesregierung rückt dieser Aspekt der Energiewende wieder stärker in den Fokus. Deshalb werfen wir hier einen Blick auf aktuelle Strombedarfsprognosen und Schlussfolgerungen verschiedener Akteure.

Bundesregierung geht von geringerem Bedarf aus

590 Terawattstunden (TWh) Strom würden im Jahr 2030 in Deutschland benötigt, so die Bundesregierung in einer Stellungnahme von Ende Oktober 2019. Diese bis dato offizielle Einschätzung der Regierung sorgt in der Fachwelt für Verwunderung. Denn damit würde der Bruttostromverbrauch sogar knapp unterhalb des heutigen Niveaus von 595 TWh (2018) liegen. Um den für 2030 angestrebten Erneuerbaren-Anteil von 65 Prozent bei der Stromerzeugung zu erreichen (entspricht rund 384 TWh), müsste laut Regierungsstellungnahme die installierte Leistung der Erneuerbaren auf 203 Gigawatt ansteigen.

Die Werte stammen aus dem Netzentwicklungsplan Strom 2019-2030 der Bundesnetzagentur, der im Kern auf Szenarien der Übertragungsnetzbetreiber basiert. Diese sind mittlerweile überholt. Warum die Regierung von einem geringeren Strombedarf ausgeht, ist schwer nachvollziehbar. Denn allein für die anvisierten 7 bis 10 Millionen Elektrofahrzeuge und die rund 4 Millionen Wärmepumpen im Gebäudebereich kommen große Stromverbraucher dazu. Beträchtliche Mengen an Ökostrom wird zudem die Industrie benötigen, um, wie von diversen Unternehmen angekündigt, die Treibhausgasemissionen ihrer Produktionsprozesse drastisch zu senken. Hier soll die Gewinnung von grünem Wasserstoff durch Elektrolyse eine wesentliche Rolle spielen. Wasserstoff ist nicht nur ein wichtiger Grundstoff in der chemischen Industrie, er kann auch als Brennstoff für Prozesswärme genutzt werden.

 

Allein mit den anvisierten 7 bis 10 Millionen Elektrofahrzeugen kommen viele Stromverbraucher dazu.
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Übertragungsnetzbetreiber rechnen mit Anstieg des Stromverbrauchs

Die Übertragungsnetzbetreiber (ÜBN) Amprion, 50 Hertz, Tennet und Transnet BW gehen für die Zeit bis 2035 von einem weiter steigenden Stromverbrauch aus. Das zeigt ihre neueste Szenarienabschätzung für den Netzentwicklungsplan 2021-2035. In allen vier betrachteten Szenarien gehen die Übertragungsnetzbetreiber von einer Zunahme des Stromverbrauchs aus. Trotz Energieeffizienzmaßnahmen steige der Bedarf durch neue Stromverbraucher wie etwa Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen sowie wegen einer erheblichen zusätzlichen Nachfrage von Industrie und Gewerbe.

Dadurch erhöhe sich der Strombedarf im Zeitraum 2016 bis 2035 mindestens um rund 9 Prozent auf dann 637,5 Milliarden kWh (Szenario A). Im Szenario C rechnen die Übertragungsnetzbetreiber mit einem Anstieg des Bruttostromverbrauchs um fast 25 Prozent auf dann 728,9 Milliarden kWh. Dieses Szenario ist dasjenige mit dem höchsten Anteil erneuerbarer Energie sowie einer weit vorangeschrittenen Sektorenkopplung. Es geht von 17 Millionen E-Autos, 9 Millionen Wärmepumpen, 4,1 Millionen Großwärmepumpen, 3,1 Millionen Elektroheizern sowie 7,5 Gigawatt (GW) für Wasserstofferzeugung aus.

Die installierte Leistung der erneuerbaren Stromerzeugung steigt von 116 GW (Ende 2018) bis 2035 auf 235 GW (Szenario A) beziehungsweise 276 GW (Szenario C) an. Der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch von heute rund 38 Prozent würde dann zwischen 73 und 77 Prozent, also 530 bis 560 TWh, betragen.

EWI prognostiziert ebenfalls steigenden Strombedarf

Die Schätzung der Übertragungsnetzbetreiber zum Strombedarf deckt sich in etwa mit einer Prognose, die das Energiewirtschaftliche Institut (EWI) der Universität Köln für die Wirtschaftszeitung „Handelsblatt“ erstellt hat. Aus der Analyse diverser Studien hat das Institut einen Anstieg des Bruttostromverbrauchs auf 748 TWh im Jahr 2030 abgeleitet.

Damit hat das EWI eine frühere Schätzung zur Stromnachfrage (Dena-Leitstudie 7/2018) aufgrund der Klimabeschlüsse der Bundesregierung angehoben. So würden die Forcierung der Elektromobilität, der Zuwachs von Wärmepumpen in Gebäuden sowie die verstärkte Verwendung von grünem Wasserstoff (Elektrolyseaufwand) in der Industrie den Strombedarf bis 2030 deutlich steigen lassen.

Rund 345 TWh Strom, das entspricht einem Anteil von 46 Prozent, werden laut EWI dann durch Nutzung von Windkraft, Photovoltaik und anderen erneuerbaren Energien erzeugt. Das ist nicht viel weniger als von der Bundesregierung anvisiert. Weil aber der Stromverbrauch deutlich steigen werde, könne die Bundesregierung ihr Ökostromziel von 65 Prozent für 2030 wahrscheinlich nicht erreichen. Dafür wären 486 TWh grüner Strom erforderlich.

Der Bundesverband erneuerbare Energien (BEE) warnt vor einer „Ökostrom-Lücke“, die geschlossen werden müsse, um die Versorgungssicherheit gewährleisten zu können.
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Erneuerbaren-Branche fordert höhere Ausbauziele

Auch der Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE) beziffert in einer Analyse (Mai 2019) den Bruttostromverbrauch im Jahr 2030 auf 740 TWh. Darin seien Effizienzmaßnahmen eingerechnet. Für das Erreichen des 65-Prozent-Ziels müssten demnach 481 TWh aus erneuerbaren Energien stammen.

Im BEE-Szenario sind deutlich ambitioniertere Anteile von Power-to-X, E-Mobilität und Wärmepumpen enthalten. Der aktuell von der Bundesregierung vorgesehene Ausbau der Erneuerbaren würde dafür bei weitem nicht ausreichen. Der BEE warnt deshalb vor einer „Ökostrom-Lücke“ von rund 100 Milliarden kWh, die geschlossen werden müsse, um die Versorgungssicherheit gewährleisten zu können. Angesichts dieser Zahlen müsse die Bundesregierung nachsteuern. Um im Jahr 2030 481 TWh Strom mit erneuerbaren Energien erzeugen zu können, müssten laut BEE-Szenario jährlich 4.700 MW Windenergie an Land, 1.200 MW Offshore, 10.000 MW Photovoltaik, 600 MW Bio­energie, 50 MW Wasserkraft und 50 MW Geothermie neu installiert werden.

Dena-Leitstudie sieht großen Importbedarf für Power-to-X

Laut der Dena-Leitstudie „Integrierte Energiewende“ (7/2018) wird der Strombedarf in einem klimaneutralen Deutschland – das entspricht dem 95-Prozent-THG-Minderungsziel – im Jahr 2050 je nach Szenario (Technologiemix/Vollelektrifizierung) zwischen 820 und 1.140 TWh betragen. Viel Ökostrom wird dabei auch für die Erzeugung von klimaneutralen synthetischen Energieträgern mit dem Power-to-X (PtX)-Verfahren benötigt werden, also für Elektrolyse-Wasserstoff, für synthetisches Methan sowie für synthetische Kraft- und Brennstoffe. Diese PtX-Produkte werden den Wasserstoff-Bedarf der Industrie decken und die Lücken in den Sektoren Verkehr und Industrie schließen, die nicht durch Energieeffizienz oder die direkte Nutzung von Ökostrom abgedeckt werden können.

Um das 95-Prozent-THG-Minderungsziel erreichen zu können, müssen laut Dena-Leitstudie die synthetischen Energieträger im Jahr 2050 je nach Szenario (Technologiemix/Vollelektrifizierung) zwischen 533 TWh und 908 TWh des gesamten Energiebedarfs in Deutschland abdecken. Die Dena-Leitstudie rechnet damit, dass Deutschland seinen PtX-Bedarf zum größten Teil (75 % bis 80 %) mit Importen decken wird, aus Ländern, die erneuerbaren Strom günstig gewinnen können.

Um die Entwicklung des Marktes anzustoßen, sollte Deutschland bis 2030 Elektrolysekapazitäten für die Herstellung von erneuerbarem Wasserstoff im Umfang von 15 GW aufbauen. Für 2050 werden zwischen 53 und 63 GW veranschlagt. Den erneuerbaren Strombedarf für die heimische PtX-Produktion, überwiegend für die Wasserstoff-Elektrolyse, beziffert die Dena-Leitstudie je nach Szenario auf 56 bis 68 TWh für das Jahr 2030 und 154 bis 191 TWh für das Jahr 2050.

Quelle: raffiniert 1/2020

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